Ilse Biberti ist 50 Jahre alt. Seit 2005 pflegt sie ihre Mutter, die einen Schlaganfall erlitt.
In 10 596, also rund 10 600 Tagen werde ich meinen 80. Geburtstag feiern. Familiär und statistisch ist es sehr wahrscheinlich, dass ich da am Leben und bei guter Gesundheit bin. Sie können es sich selber ausrechnen, ich bin kurz über 50. Wenn Sie diese Zeilen lesen, sind schon wieder Tage vergangen. Ich hoffe, ich habe diese Tage gut erlebt, verlebt. Und Sie? Wie ist das bei Ihnen?
Ich könnte auch sagen: In etwas über 29 Jahren feiere ich meinen Achtzigsten. Das klingt besser. Reicher irgendwie. Nahezu unendlich.
Allerdings: nur noch 29-mal die Kastanien blühen sehen? Nur noch 29-mal die Weihnachtskugeln aus der Verpackung befreien? Nur noch eine bedingte Anzahl von Küssen? Diese Betrachtungsweise macht es auch nicht besser.
Ein kleines bisschen mehr als 10 600 Tage. Nur noch so kurze Zeit werde ich gesund und munter, das ist meine klare Vorstellung, auf dieser Welt sein? Nur sooo kurz noch? Das macht mir Angst und weckt Protest. Eigentlich weiß ich noch gar nicht so richtig, wie ich das fühle und finde: 10 596 Euro auf dem Konto. Ja, das ist was. Da gibt’s Zinsen.
Der Wecker am Bett meiner Mutter tickt plötzlich penetrant und überlaut in meinen Ohren. Ihr Schnarchen dröhnt in meinen Ohren. Sie hält gerade ihren Mittagsschlaf. Ich sitze am Esstisch, keine drei Meter von ihr entfernt. Denke und schreibe. Schaue hoch, wenn ihre Atempausen länger als gefühlte 90 Sekunden sind. Mein Blick sucht dann eine Bewegung ihres Brustkorbs. Bleibt sie aus, dehnt sich die Zeit bis ins Unerträgliche. Entspannen kann ich erst, wenn ihr Atem, meist laut knatternd, wieder einsetzt. Wie wird es sein, wenn er es nicht mehr tut? Ich werde stolz auf sie sein, denke ich, wenn sie es schafft, so in Frieden zu gehen. Vor einem größeren Leiden, denke ich. Wie es mir dann geht? Wie wird es mir dann gehen? Auch das möchte ich jetzt vorbereiten. Jetzt die innere Bereitschaft entwickeln, meine Mutter gehen zu lassen, ihr beizustehen und auch mein weiteres Leben vor-zudenken und vorzubereiten. Jeder Klick des Sekundenzeigers ihrer Uhr eine gewesene Zeit. Für sie und für mich. Nein! Ich bin dagegen, da kann ich doch nicht dafür sein.
Das Empfinden, mit welcher Jahreszahl das Alter beginnt, unterliegt einem stetigen historischen Wandel. Die Einteilung in Jung, mittleres Alter und Alt blieb bis jetzt weltweit die Gleiche. Es gibt geografische Unterschiede. Unterschiede durch Klima, durch die politische und gesellschaftliche Situation und die jeweilige Versorgungssituation. In einem Dritte-Welt-Land ist man jünger alt. Das Alter muss bemessen werden an der ortsüblichen Lebenserwartung. Arm stirbt früher, egal in welcher Gesellschaft. Nur eins bleibt weltweit gleich: Es wird gestorben! Was ist nun das Alter? »80 Prozent der Bevölkerung empfinden sich als alt, wenn sie in ihrem alltäglichen Leben ohne Hilfe nicht mehr auskommen können«, habe ich gelesen. Alter ist demnach, wenn ich alleine nicht mehr kann? Ich nicht mehr selbstständig bin?
Wie ist das nun mit mir? »Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum, wer nicht fragt bleibt dumm.« Der Refrain des Sesamstraßenliedes könnte mein Motto werden. Das ist doch eine grandiose Entwicklung! Finden Sie nicht? Wie geht es Ihnen? Können Sie mir das sagen? Ehe ich weitere Zeit mit Auflehnung gegen die Endlichkeit des Seins verschwende, blicke ich dem Unabwendbaren in die Augen. Diesem Dämon. Mein Vater schaltet sich in meinem Kopf ein: »Es geht um die Qualität der Zeit! ›Die Gegenwart allein ist wahr und wirklich: Sie ist die real erfüllte Zeit, und ausschließlich in ihr liegt unser Dasein‹ «, hätte Papo jetzt bestimmt mit Schopenhauer gekontert. Mir fällt nur Hamlet ein: »Sein oder nicht sein!« Geht’s nicht ’ne Nummer kleiner? Nein natürlich nicht: Ein bisschen Leben, das gibt es nicht, es gibt nur DAS Leben: leben, voll und ganz. Wenn du es nicht ändern kannst, mach das Beste daraus.
Ilse Biberti, Henning Scherf (2009): Das Alter kommt auf meine Weise. Lebenskonzepte heute für morgen. Südwest Verlag. S. 95 bis 97.