Ilse Biberti beschreibt in ihrem Buch Hilfe, meine Eltern sind alt ein Jahr in ihrem Leben. Es zeigt wie sich ihr Leben durch den Schlaganfall ihrer Mutter änderte, wie sie es umstellte, um sich um ihre Eltern kümmern zu können. Ein Jahr lang lässt sie den Leser teilhaben an ihrer Kraft, Aufopferungsbereitschaft und auch Verzweiflung:
[…] Jetzt ist es passiert. Plötzlich und unerwartet. Ich rase mit 100 km/h durch die Stadt zu meinen Eltern. Meine Mutter sitzt am Esstisch, umarmt mich wie eine Ertrinkende. Unverständliche Laute und Worte sprudeln aus ihr heraus, artikuliert in einer klaren Satzmelodie. In ihren Augen lese ich, dass sie das Gefühl hat, ganz normal verständlich zu sprechen. Nach außen bleibe ich freundlich neutral, halte ihre Hand. Innerlich rasen meine Gedanken: Heute ist Mittwoch. Hat der Hausarzt seine Praxis offen? Nein. Der Neurologe? Ja, aber erst ab 14 Uhr. Jetzt ist es 12 Uhr. Sie hat schon einmal vor zwei Wochen unverständlich gesprochen. Nach einem Tag war das verschwunden. Damals hatte ich sie intuitiv »unter Wasser « gesetzt, hatte sie zwei Liter trinken lassen. Habe sie dem Neurologen vorgeführt. Er will sie auf Epilepsie und Parkinson untersuchen. Wie war das bei meinem Vater damals bei seinem Schlaganfall? Er hatte starke Schmerzen im linken Arm, der linke Teil seines Mundes hing schief, ihm war schwindelig, er hatte Sehstörungen. Aufmerksam betrachte ich das Gesicht meiner Mutter. Keine Gesichtshälfte hängt. Kann ich warten oder nicht? »Hast du Schmerzen in der linken Seite?« Unverständliche Worte. Gut, also muss ich erst eine gemeinsame Verständigung vereinbaren.
Mein Vater schreit wie ein verwundetes Tier: »Was machen wir?« Mammi und ich einigen uns auf Nicken für »Ja« und Kopfschütteln für »Nein«, auf Telepathie und viel trinken. »Schmerzen?« Kopfschütteln. »Siehst du doppelt?« – »Malapp korum schneeeze!« Ich verstehe nicht. Sie schüttelt den Kopf. Ich frage nach: »Nein?« Sie nickt. Na, hoffentlich stimmt das. Ich betrachte sie eingehend. Nein, sie sieht nicht aus, als ob sie Schmerzen hätte. »Wie viele Finger sind das?« Ich halte drei Finger in die Höhe. »Gmatus!!!«, strahlt mich meine Mutter an. »Und jetzt?«, ich halte zwei Finger in die Höhe. Keine Reaktion. Ihr Blick ist leer, ohne ein Zeichen des Erkennens. Bei der Untersuchung zu ihrer Grauen-Star-Operation vor fünf Jahren wurde festgestellt, dass sie einen »Sehpfropfen« im linken Auge hat. Dadurch hat sie im mittleren Teil des Sehfeldes einen »blinden Fleck«. Ich bewege meine zwei Finger auf gleicher Höhe leicht nach rechts und nach links. »Ha«, meine Mutter lacht erkennend, »Kwum!!!« Sie hebt zwei Finger in die Höhe zum Victory- Zeichen. Auch ich hatte Ring- und Mittelfinger so hochgehalten. Ich lache. Meine Mutter lacht: »Kwum, maleise gnach …« Wir lachen beide, Tränen laufen mir übers Gesicht.
»Es ist vorbei. Irgendwann muss es ja vorbei sein. Nun heißt es Abmarsch«, unterbricht uns mein Vater mit depressiver Stimme. »Und wir haben noch keinen Sarg bestellt. Machst du das?« Er blickt mich an, leidend. »Ich bin dazu nicht mehr in der Lage.« Meine Mutter reagiert wütend, droht ihm mit der Hand: »Dura bese lajke wem.« Mein Vater sieht sie ängstlich an: »Stimmt doch. Den werden wir brauchen.« Ich mache weiter: »Berühre mit dem Finger deine Nase.« Klappt etwas wackelig. Ich teste ihre Reflexe, kratze an Füßen, Knien, Handgelenken, Armen, am Bauch, im Gesicht: alle reagieren. Scheiß Halbwissen, ich hab das alles schon inszeniert, nach Drehbuch den Schauspielern abverlangt, unterstützt von einer Fachberatung, meist einem Arzt, aber das hier ist die Realität. Also keine Schmerzen, ich taste sie links ab, ohne negative Reaktion, keine Sehstörung, kein Schwindel. Was ist mit ihr? Ich brauche eine Fachberatung! Erst in einer halben Stunde kann ich den Neurologen erreichen. Kann man einen Schlaganfall ausschließen? Aber was ist es dann? Ich weiß, sie will nicht ins Krankenhaus, nur im äußersten Notfall. Das musste ich ihr versprechen. Muss ich mich jetzt über ihren Wunsch hinwegsetzen? Ist das jetzt der äußerste Notfall? Habe ich noch die halbe Stunde, um auf die Aussage ihres Neurologen zu warten?
Ich rufe eine Bekannte an, die lange als Krankenschwester auf der Intensivstation gearbeitet hat. Sie rät, Ruhe zu bewahren, einen Arzt anzurufen, ansonsten ab in die Notaufnahme. Meine Mutter erschrickt, sie versucht dem Krankenhaus zu entgehen, indem sie übermäßig viel trinkt. Es fällt ihr schwer. Sie verschluckt sich immer wieder, hustet, bekommt Erstickungsanfälle. Sie ist in der Gegenwart. Sie erklärt mir mit eindeutigem Selbstbewusstsein: »Karum batta schlee!« Dieses Missverhältnis zwischen der Realität und ihrer empfundenen Realität bringt mich fast um. Mein Vater fragt in gespenstischer Ruhe: »Was machen wir?« Es antwortet aus mir: »Wir trinken, und dann rufe ich Punkt 14 Uhr den Neurologen an.« Meine Mutter mit einem triumphierenden Blick zu meinem Vater: »Kamblu trass!« »Das ist in sieben Minuten «, mache ich mir selbst Mut. […]
Ilse Biberti(2009): Hilfe, meine Eltern sind alt. Südwest Verlag. S. 15 bis 17.