Nach dem Schlaganfall ihrer Mutter, zog Ilse Biberti wieder in die Wohnung ihrer Eltern in Berlin Steglitz. Bei ihrem Vater wurde Alzheimer diagnostiziert. Während sich ihre Mutter nach dem Anfall nicht mehr richtig artikulieren kann, leidet ihr Vater unter Schwerhörigkeit.
Mein Vater bewacht mich. In der Nacht setzt er sich vor mein Bett, betrachtet mich. Wenn ich mich bewege, werde ich angesprochen. Dieses Buch schreibe ich meist in seiner Leseecke unter dem Fenster. Den Laptop auf den Knien, Ohropax in den Ohren. Meine Mutter hat ihre Fernsehphobie in der Reha abgelegt. Sie hat den Fernseher fast auf maximale Lautstärke gestellt, schläft aber meist dabei.
Oft räumt mein Vater seine »Picasso- Ausstellung« von dem zweiten Sessel, setzt sich zu mir. Meine Mutter ist eifersüchtig, meist kommt sie nach einer Weile. Gehe ich in die Küche, folgt die Karawane. Jeden zweiten Tag muss ich meinen gebrochenen Fuß dem Arzt vorstellen. Obwohl mich jemand ersetzt, kommt es jedes Mal zu einem dramatischen Abschied. Letztlich fliehe ich dann aus der Wohnung. Gehe ich am Abend in die Badewanne, folgt mir meine Mutter unter dem Vorwand ihrer Inkontinenz, sitzt dann aber auf der geschlossenen, inzwischen gepolsterten Toilette und redet auf mich ein. Sie zwingt mich, unhöflich zu werden. Mein Vater kommt drei Minuten später: »Ach, hier seid ihr.« Er setzt sich dann auf einen Küchenstuhl in die offene Tür. »Hab ich was verpasst?« Ich schließe die Augen, entspanne? Nach einer weiteren Minute findet mein Vater, ich bade zu lange, das wiederholt er 20 Mal, bis meine Mutter ihn in Märchensprache, sein Hörbügel fehlt natürlich, anschreiend aus dem Bad treibt und ich sie. Dann siede ich mich wie einen Hummer, schwanke halb ohnmächtig im Bademantel aufs Sofa. Meine Mutter lacht lauthals: »Ein weißer Elefant. « Ich verstehe nicht, was sie meint. Sie macht eine Geste für ein überdimensionales, riesiges Wesen mit dickem Bauch! »Elefant!« So unterstützt, schlafe ich bei einer »Telenutella «-Beschallung ein.
Alles was meinen Vater irritiert, was neu ist oder ihm schon immer Angst gemacht hat, wird in einer Endlosschleife wiederholt. Alte Traumata tauchen auf. »Ich war ein ungeliebtes Kind, ich wurde von der Oberschule genommen«, »Mein Leben ist durch den Krieg sinnlos verschwendet«, »Mein Vater hat mich missachtet.« Argumentativ dagegenzuhalten, bringt nichts. Es gefällt ihm, dass ich ihm zuhöre, frei von wertenden Kommentaren, ihn nur ab und zu ermutige, weiterzusprechen. In dieser Phase erzählt er mir alles nur noch 40 Mal täglich. Ich frage ihn, ob er seinen Vater nicht einfach seinen Vater sein lassen könnte: »Da du ihn nicht kennst, sind das doch alles Spekulationen. Du hast 81 Jahre deines Lebens ohne ihn erfolgreich gemeistert. Da kannst du doch stolz auf dich sein! Vielleicht konnte er unter den damaligen Umständen nicht anders handeln?« – »Klar habe ich ihm verziehen, warum nicht, ich hab keinen Hass mehr«, bekomme ich prompt als Antwort. Sein Körper spricht eine andere Sprache: Vor mir sitzt ein kleines verstocktes Kind. Ich versuche, ihm meine Liebe deutlicher zu zeigen. Wir betreten schüchtern neues Terrain.
Ilse Biberti (2009): Hilfe, meine Eltern sind alt. Südwest Verlag. S. 228, 229.